Mithilfe der Zukunftsforschung lässt sich berechnen, wann welche fundamentalen Veränderungen in Bereichen wie Mobilität, Energie und Robotik eintreten werden – und wie sie unser Leben beeinflussen. In seinen Vorträgen – auch im Rahmen des VDI-Forum Digitale Transformation – schärft der Zukunftsforscher Lars Thomsen seinem Publikum den interdisziplinären Blick über den Tellerrand. In Teil Eins unseres Gesprächs ging es unter anderem um ein besseres Verständnis für die anstehenden Veränderungen der nächsten knapp 500 Wochen. Im folgenden Teil Zwei erfahren Sie, wie jeder und jede Einzelne den eigenen Weg finden und beschreiten kann – und warum es gerade jetzt so wichtig ist, die eigene Perspektive zu erweitern.
Anmerkung der Redaktion: Lesen Sie gern auch Teil Eins des Interviews, Zukunft braucht interdisziplinären Weitblick – Interview mit Lars Thomsen.
Frustration als Schlüsselerlebnis – Zukunftsforscher Lars Thomsen im Interview
Herr Thomsen, wenn man als Einzelperson sich nun Veränderungen öffnen und selbst aktiv gestalten möchte: Was würden Sie sagen, wo beginnt das oder wie kann man für sich einen guten Weg nach vorn finden, um die Zukunft mit zu gestalten?
Lars Thomsen: Das beginnt wahrscheinlich schon im Kindergarten und in der Schule, aber umso wichtiger ist das in der Uni oder an der Hochschule. Was ich Ihnen jetzt erzähle, ist sehr persönlich. Ich selbst habe meinen Beruf dadurch gefunden, dass ich im Studium immer wieder die Frage gestellt habe: Warum mache ich das? Ich habe immer den Status quo infrage gestellt – sehr zum Leidwesen meiner Professoren. Ich habe BWL studiert und war von den Inhalten enorm frustriert, um nicht zu sagen gelangweilt, von allen vorgegebenen Bereichen, Buchhaltung, Recht und so weiter. Die Methoden, die wir da erlernt haben, dienen nur dazu, die aktuelle oder die vergangene Lage der Unternehmen zu beschreiben: Woher kamen welche Einnahmen etc. All diese Beschreibungen beziehen sich auf die Vergangenheit, und die kann man nicht mehr beeinflussen, nur abheften.
Was mich aber wirklich interessierte, war die Frage, wo das Unternehmen in fünf Jahren sein würde. Beeinflussbar ist nur die Zukunft, also wie werden sich die Zahlen in den nächsten Jahren verändern? Welche Faktoren lassen sich wie einberechnen? Diese Fragen habe ich auch den Professoren gestellt, und die gaben mir durchgehend die sehr frustrierende Antwort: Herr Thomsen, in die Zukunft kann keiner schauen, da müssen wir abwarten und sehen, was passiert. Das war letztendlich für mich der Anstoß meiner Berufswahl. Darauf reagierten die anderen wiederum vor allem mit Lachen und Unverständnis. „Zukunftsforscher ist doch kein Beruf! Kaufmann ist ein Beruf,“ und so weiter. Auch diese Ansicht hat sich inzwischen grundlegend verändert.
Letztendlich ist mein Beruf aus einer Frustration heraus entstanden: Ich studierte etwas, das keinen Sinn hatte. Dabei habe ich eine Lücke gefunden: Die Anwendung von Methoden, die im Sinne der Betriebswirtschaft funktionieren – und die sich auf die Zukunft anwenden lassen und sie berechenbar machen. Deshalb werde ich Studierenden, die Langeweile im Studium haben, immer dazu raten, den Status quo zu hinterfragen – und Fragen zu stellen.
Das dürfte das Verständnis, das viele von einem Studium haben, durchaus widersprechen, gerade vor dem Hintergrund von Regelstudienzeit und Lebenslauf.
Wenn man an einer Hochschule studiert, geht es nicht nur darum, möglichst gute Noten zu schreiben, alle Scheine einzusammeln und am Ende einen Abschluss zu haben. Sondern es gilt, die Zeit zu nutzen, um zu denken und das eigene Denken und die eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Nach Studienende werden uns schon sehr schnell ganze Aufgabenfelder übertragen – und da bleibt keine Zeit mehr für die eigene Talentfindung oder Weiterentwicklung. Das ist allerdings genau die Falle, in die sehr viele tappen. Ich komme immer wieder mit den verschiedensten Leuten ins Gespräch und sie erzählen, dass sie immer ausgiebig gelernt und gute Noten geschrieben haben, die Erwartungen immer erfüllt haben, und dasselbe haben sie im Studium umgesetzt: Gute Noten, guter Abschluss. Auch in der Arbeit haben sie immer die Erwartungen gut erfüllt – um dann zu sagen: „Aber wenn ich in Rente gehe, dann mache ich, was ich will!“ Das ist etwas spät dafür.
Daher gilt immer: Setzen Sie sich immer wieder neuen Dingen, neuen Gedanken aus – und tun Sie auch etwas, was womöglich gar nicht im Studium gefordert ist. Nutzen Sie die Zeit auch, um sich in andere Fachbereiche und Vorlesungen reinzusetzen. Das habe ich selbst immer sehr genossen: Früher durfte man immer auch an fachfremden Veranstaltungen teilnehmen; warum also nicht einmal in die Psychologievorlesung gehen? Ich komme aus der Betriebswirtschaft, aber die Grundkonzepte der Psychologie sind durchaus sehr interessant und das erweiterte auch meine eigene Perspektive.
Das setze ich auch für mich heute noch um und kann jedem und jeder nur empfehlen. Jeden Tag investiere ich mehrere Stunden in meine eigene Weiterbildung. Das bereichert das Spektrum der eigenen Gedanken enorm.
Stärken, Interessen, Persönlichkeit: Das eigene Profil ausdifferenzieren
Weil wir gerade von unterschiedlichen Fachrichtungen sprechen: Haben Sie den Eindruck, dass sich die Bereitschaft zu einem solchen Studium generale auch beispielsweise nach Merkmalen wie Bereich, Alter oder Hintergrund unterscheidet?
Lars Thomsen: Meiner Einschätzung nach lässt sich diese Bereitschaft nicht so einfach herunterbrechen, das ist immer sehr individuell. Fest steht für mich allerdings, dass die Zeit des Studiums dazu dient, sich zu finden – und auch um sich zu erfinden. Da kommen wir wieder zum Thema Zukunft oder auch die Arbeit der Zukunft zurück. Es wird sich immer weniger um ein Korsett von Formalia handeln, das sich auf eine räumliche Orientierung oder auf Qualifikationen fokussiert. Es wird immer weniger darum gehen, was für einen Hintergrund ich genau habe, ob nun technisch, geisteswissenschaftlich, sprachlich, kommunikativ oder was auch immer.
Stattdessen werden persönliche Fragen wichtiger, etwa „Was kann ich gut?“, „Was mache ich gerne?“, „Was beherrsche ich?“ oder „Wofür bekomme ich Wertschätzung?“ Und wann kann man das herausfinden, wenn nicht im Studium? Denn als Angestellter oder Angestellte wird man sehr schnell in eine Rolle hineingedrängt und dann stellt sich auch nicht mehr die Frage, wie groß das eigene Interesse an diesem Feld ist. Dann ist vielmehr die Frage, ob man bereit ist, in diesem Unternehmen zu arbeiten oder eben nicht.
Das heißt, das Ausdifferenzieren unseres eigenen Persönlichkeitsprofils wird in Zukunft auch für die Arbeit mehr Bedeutung gewinnen?
Lars Thomsen: Dazu werden wir immer mehr gefordert sein, ja. Wir werden unsere Alleinstellungsmerkmale finden und definieren müssen, wer und welcher Arbeitstyp wir sind. Es gibt die Denker und Denkerinnen, die Zeit brauchen, um Dinge vollkommen zu durchdringen, andere sind glücklich, wenn sie jeden Tag 20 Telefonate führen und mit Menschen interagieren können. Wieder andere lieben es, Dinge abzuarbeiten. Das ist alles vollkommen ohne Wertung gemeint: Verschiedene Tätigkeiten liegen den Menschen einfach unterschiedlich gut. Ich persönlich halte gerne Reden und Vorträge, aber für mich ist Aufräumen eine schreckliche Aufgabe, das hätte schon gestern abgeschlossen sein sollen und es bringt mir nichts Neues. Eine Mitarbeiterin von mir hingegen liebt es, Dinge abzuheften. Manche freuen sich über Aufgaben, die für andere grauenvoll sind. Entscheidend ist, die richtigen Aufgaben zu haben und sie so zu erledigen, dass jeder Tag zu Erfüllung, Freude und Anerkennung beiträgt.
Genau genommen ist das eine zentrale Erkenntnis in der Entwicklung der Menschheit: Wir müssen weggehen von diesen Arbeitstrennungen, die wir sie in vielen Bereichen haben. Wir müssen unsere Vorstellungen – von Arbeit, Geschlechtern, Berufen oder wie ein Arbeitsplatz aussieht – grundlegend erneuern. Und wir werden immer mehr gefordert, uns selbst zu definieren.
Letztendlich ist das ja ein Tipp oder Ansatz, den wir eigentlich alle kennen und über den aktuell viel gesprochen wird, und den wir in unsere Lebensentscheidungen trotzdem kaum einbeziehen, oder?
Lars Thomsen: Das stimmt. Ich denke mir oft: Eigentlich mache ich sehr banale Aussagen, aber es ist dennoch wichtig, dass ich sie mache und den Leuten in Erinnerung rufe – gerade den Studierenden. Das betrifft auch das Storytelling, wie eben vorhin zu meinem eigenen Werdegang, oder über die Frustration mit Studieninhalten ganz konkret zu sprechen. Entscheidend ist, nicht nur frustriert zu sein, sondern diese Frustration zu nutzen und sie in eine schlaue Frage umzuwandeln. Selbst wenn die Antwort auf diese Frage keinen Sinn offenlegt, oder man dann zu hören bekommt, dass die Frage selbst keinen Sinn ergibt, dann ist doch die nächste Frage: Was würde denn Sinn ergeben? Vielleicht führt dieser Gedankengang ja dazu, dass jemand die eigene Berufung findet. Letztendlich war diese Frustration für mich der Anstoß dafür, womit ich die letzten zwanzig Jahre mein Geld verdient habe.
Jetzt ist die Zeit, digitale Vorträge und Weiterbildung nutzen
Wie nehmen Sie die aktuelle Lage mit dem ausschließlich digitalen Austausch wahr: Man sieht sich ja nicht direkt, in manchen Meetings womöglich noch Face to Face auf dem Screen, häufig aber nur mit sehr kleinen Bildern oder gar keinem. Wie geht es Ihnen damit, gerade auch in Vorträgen?
Lars Thomsen: Natürlich haben digitale Vorträge nicht die Qualität einer physischer Vortragssituation. Als Vorträger rattere ich nicht nur einfach etwas herunter, sondern gehe in die Interaktion und arbeite mit den Reaktionen, was immer sehr hilfreich ist. Im direkten Vortrag sieht man, ob jemand skeptisch ist oder eine optimistische oder positive Einstellung zu etwas hat.
Auf der anderen Seite ist es schön, dass wir diese Barriere ein wenig auflösen und mehr Leute sich Vorträge anhören können. Der Zugang ist einfacher, und durch Corona entfällt häufig einfach die Anreise. Der logistische und Planungsaufwand reduziert sich darauf, zur richtigen Zeit am Schreibtisch zu sitzen. Meiner Meinung nach wird es in Zukunft definitiv beide Vortragsformen geben.
Auch ich selbst höre zurzeit mehr Vorträge und muss weniger abwägen, welchem ich den Vorzug gebe. Selbst wenn man manche Themen oder Bereiche nicht gleich als interessant einstuft, dann ergeben sich doch spannende Einblicke und bereichernde Erkenntnisse. Was den Austausch selbst betrifft, bin ich immer froh, wenn Studierende eine Frage stellen, auf die ich spontan keine Antwort parat habe. Das sind die Fragestellungen, über die ich nachdenke, um die ich mich direkt am nächsten Tag kümmere und die mich persönlich auch weiterbringen.
Es gilt, die Zeit zu nutzen und langfristige Themen anzugehen
Zum Abschluss noch einmal kurz zur Vortragsreihe selbst: Wie würden Sie Ihr Anliegen mit den Vorträgen zusammenfassen?
Ich hoffe, über viele langfristige Themen sprechen und sie den Studierenden näherbringen zu können. Zahlreiche Schwerpunktthemen haben sich in letzter Zeit stark gewandelt, wie eben Energie, Klimawandel und die Frage, wie wir uns ernähren, aber auch wie Informationen auf- und verbreitet werden, wie Meinungen entstehen und so weiter. Das sind alles Themen, die während Corona unter einem Brennglas betrachtet werden konnten – und auch diese Gelegenheit müssen wir nutzen.
Selbst wenn viele sagen, dass die Menschen immer verrückter werden, habe ich einen anderen Eindruck. Ich denke, dass wir vernünftiger werden, dass wir auch als Gesellschaft mehr Vernunft erlangt haben. Themen wie der Klimawandel brauchen einfach Zeit. Da muss ich auch dazu sagen, dass wir bei future matters schon seit vielen Jahren alarmiert sind, was den Klimawandel betrifft, auch ohne eine spezielle politische Meinung zu vertreten. Wir betrachten mittel- bis langfristige Trends – dabei geht es nicht um Glauben oder ein Gefühl, wie sich etwas entwickeln wird, sondern vielmehr um Modelle, mit denen man rechnen kann.
Unabhängig davon, ob mir zum Beispiel etwas nicht schnell genug geht: Die Akzeptanz für viele Themen und Entwicklungen steigt, auch trotz der Rückschläge oder Entwicklungen in Ländern und Regierungsentscheidungen, die teilweise nur fassungslos machen. Nehmen wir kurz das Beispiel Energie: Großbritannien hat wieder Kohleminen zugelassen, obwohl sie zu den Regierungen gehörten, die sich von dieser Form der Energiegewinnung am schnellsten abgewendet hatten. Andererseits ist in den letzten zehn Jahren, also seit 2010, der Anteil der erneuerbaren Energien in Deutschland von 14 auf 46 Prozent gestiegen. Das hätten wir 2010 noch nicht für möglich gehalten. Und diese Entwicklung wird Rückendwind von den Tippings Points in den kommenden Jahren erhalten, also wenn die erneuerbaren Energien auch noch günstiger werden als fossile Brennstoffe.
Damit haben wir bereits viel geschafft. Natürlich gibt es noch viel zu tun und eine Menge Arbeit liegt vor uns. Dennoch bin ich der Meinung, dass uns noch viel zu wenig bewusst ist, wie viel bereits erreicht ist.
Lieber Herr Thomsen, vielen herzlichen Dank für dieses spannende Interview und die wertvollen Einblicke in Ihre Arbeit – und darin, was uns im kommenden Jahrzehnt erwartet! Wir freuen uns sehr auf Ihre kommenden Vorträge und Ihre detaillierte Betrachtung der verschiedenen Schwerpunktthemen!
Das Interview mit Lars Thomsen führte die Redaktion des VDI Karlsruhe. Über welche Themen Lars Thomsen genau in der Vortragsreihe sprechen wird, ist auf dieser Seite nachzulesen: VDI-Forum Digitale Transformation – Einblicke in die Zukunftsforschung.
Die Reihe wird im März 2021 fortgesetzt, die Vorträge sind per Livestream zu verfolgen und stehen darüber hinaus auf YouTube zur Verfügung.
Über Lars Thomsen
Lars Thomsen ist ausgewiesener Experte für Zukunft der Energie, Mobilität und Künstliche Intelligenz. Er gründete bereits mit 22 Jahren seine erste Beratungsfirma, die sich mit Zukunftsstrategien und zukunftsfähigen Geschäftsmodellen für Unternehmen, Institutionen und regierungsnahe Stellen in Europa beschäftigte. 2001 gründete er die future matters AG in Zürich, in der rund ein Dutzend der progressivsten Zukunftsexperten in Europa zusammenarbeiten. Als einer der weltweit führenden Zukunftsforscher legt er besonders hohen Wert auf aktives Netzwerken, internationalen Austausch, ausgiebige Explorationen und Forschungsreisen überall auf der Welt.
Im Rahmen seines ersten Vortrages haben wir bereits ein Doppelinterview mit Lars Thomsen geführt. Wenn Sie das Gespräch nachlesen möchten, gelangen Sie hier zu Teil Eins: 2030: Was die kommenden 600 Wochen bringen werden.
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